Spielen Sie Klavier? Kennen Sie das: Sie haben ein Stück geübt und glauben es sicher zu können, doch wenn Ihnen jemand zuhört, verlässt Sie scheinbar Ihr Gedächtnis? Dann kennen Sie auch sicher das Unvermögen, im Stück zu unterbrechen oder überhaupt bei einer beliebigen Stelle wieder einsetzen zu können. Ihr Stück scheint zusammengewachsen zu einem einzigen nicht mehr formbaren Klumpen, der in der Hand zerbricht, wenn Sie etwas an ihm ausrichten wollen. Ihre Motorik ist zu einem verknorpelten Bündel unkontrollierbaren Reflex ausgereift, den Sie weder beherrschen, noch beeinflussen können. Es ist, wie es ist. „Es“ spielt, aber längst nicht mehr Sie.
Können Sie sich vorstellen, dass es möglich ist, ein Stück so zu beherrschen, dass Sie an jeder beliebigen Stelle einsetzen können, dass Sie es durchdenken können, den Notentext aufschreiben könnten, ohne dies konkret zu Üben, dass Sie beim Hören spüren, wie es sich anfühlt, beim Spielen hören, wie es aussieht und beim sehen fühlen, wie es sich anhört?
Eine Zielvorstellung, die Ihnen vielleicht unerreichbar erscheint, doch sie ist erreichbar und wenn dies und vieles mehr, dazu noch ohne Mühe möglich ist, allein durch die Kraft einer klugen mentalen Vorstellung, dann spreche ich von „Neuropädagogik“ am Klavier.
Leider ist der Begriff Neuropädagogik inzwischen so verbreitet wie das PAYBACK-Punkte-Sammeln an der Tankstelle und so wie man dort versucht, Kunden mit den raffiniertesten Bonussystemen an sich zu binden, versucht die Pädagogik ihrer angeschlagenen Wissenschaft mit dem Präfix „Neuro“ aus der Krise zu verhelfen. „Neuro“ ist in! Eine Neurowelle überrollt geradezu die Nation. Wen interessiert es da schon, was einer eigentlich darunter versteht?
Ich verwende diesen Begriff mittlerweile nur noch ungern. Wenn ich hier dennoch von „Neuropädagogik am Klavier“ spreche, dann deshalb, weil dieser Begriff meine Unterrichtskonzeption in einem Wort erklärt. Unter Neuropädagogik verstehe ich hier solche didaktischen Ansätze, die sich auf die aktuell bekannten Bedingungen und Funktionsweisen unseres Gehirns stützen, sie ausnutzen, um das Lernen zu vereinfachen und den kürzesten Weg zum Erfolg zu finden. Meine Lerntechniken sind aber auch deshalb mit dem Fokus auf die neuronalen Vorgänge formuliert, weil wir uns heute mehr denn je zuvor über die Funktionen unseres Gehirns begreifen.
In der Instrumentalpädagogik hat „Neuropädagogik“ eigentlich schon lange begonnen, bevor man diesen Begriff formulierte. Hier setzen Reformpädagogen schon früh auf bewusstes Üben, und diffenziertes Wahrnehmen und der Trend zur Einbeziehung der Lernpsychologie, -physiologie und -biologie scheint sich fortzusetzen. Mit Recht, wie ich meine! Denn was vor Jahren noch als Examensliteratur galt, spielt man heute zu Aufnahmeprüfungen. Gleichzeitig beobachte ich aber als Klavierpädagoge, dass heute kaum ein Schüler zu ausdauerndem Üben zu bewegen ist. Dem gegenüber steht er permanent in der Gefahr, sich in seinen vielfältigen Freizeitaktivitäten zu verzetteln. Um so mehr bedarf es solcher Unterrichtskonzeptionen, die ökonomisch sind und die vor allem eines: die greifen!
Die Zeiten, in denen man stundenlang Hanon- oder Czernyübungen rauf- und runterspielte, sind vorbei!
Ein guter Klavierpädagoge muss heute ökonomischere Wege zum Erfolg aufzeigen, als diese. Mag sein, dass in den vergangenen Jahrhunderten ein Schüler mit Drill leichter zum Erfolg zu führen war als durch Einsicht und Erkenntnis und die Bezeichnung „Erzieher“ zutreffender war als „Lehrer“. Mag sein, dass sich ein Schüler im 19. Jahrhundert ausdauernder konzentrieren konnte als es heute der Fall ist. Mag sein dass die rechte Hirnhälfte von Schülern aus dem asiatischen Sprachraum gegenüber denen aus dem romanischen auf Grund der Sprache anders konditioniert ist und dass die Verarbeitung von Musik dadurch quasi naturgemäß eine andere ist. Mag sein… Mag sein… Neben all diesen Überlegungen und Hypothesen ist aber eines klar: Die Bewusstmachung der Funktionen unseres Gehirns, sowie der physischen und psychischen Bedingungen, denen wir beim Musizieren unterworfen sind, spielt in der Instrumentalpädagogik eine immer größere Rolle. Das streben nach immer schnellerem Erfolg ist nicht zu stoppen. Für und Wider dieser Entwicklung möchte ich einmal dahingestellt sein lassen. Doch wer möchte schon einen Schritt zurück gehen und mit größerem Aufwand weniger erreichen, wenn es doch auch leichter geht?
Das Bewusstsein für die Vorgänge in unserem Gehirn und ein darauf ausgerichtetes systematisches Arbeiten ist heute für den Erfolg an einem Instrument unverzichtbar. Inwieweit in Zukunft die Erkenntnisse der Neurobiologie einbezogen werden und mit ihnen ein medikamentöses Eingreifen in die Vorgänge im Gehirn beim Lernen, wird sicherlich umstritten bleiben.
Mehr als die richtigen Tasten zum richtigen Zeitpunkt drücken!
Neuropädagogik ist bei mir aber auch immer eine ganzheitliche Pädagogik. Im Vordergrund steht der Mensch! Musizieren am Klavier sollte mehr sein, als zum richtigen Zeitpunkt die richtige Taste zu drücken und das möglichst schnell gelernt zu haben. Auch wenn im Unterricht für mehr die Zeit oft fehlt, so ist Neuropädagogik am Klavier doch eine Entdeckungsreise durch unser Gehirn und durch die Landschaft unserer Empfindungen und mein Unterrichtskonzept darüber hinaus eine Reise durch unsere kulturelle Geschichte bis zu ihren Wurzeln. Meine Lerntechniken um die Logik der schwarzen und weißen Tasten und deren Verarbeitung im Gehirn sind Handwerkzeuge, die in nahezu alle Bereiche des täglichen Lebens transferiert werden können.
Der Begriff Neuropädagogik in dem Sinne, wie ich ihn verwende, erhebt nicht den Anspruch einer sogenannten „harten“ Wissenschaft, in der man unter sterilen Bedingungen überprüfbare Experimente durchführt, zumal es derzeit empirisch gesicherte, direkt anwendbare Erkenntnisse aus der Hirnforschung im Hinblick auf die Klavierpädagogik überhaupt noch nicht gibt. Die derzeitigen Erkenntnisse der Hirnforschung über das Lernen im Allgemeinen und auch in Bezug auf das Klavierspiel haben trotz bildgebender Verfahren und vieler Studien immer noch Modellcharakter. Zur Anwendung in der pädagogischen Praxis bedarf es nach wie vor auf weiten Strecken analoger Schlussfolgerungen der Pädagogen, sowie deren Intuition und Erfahrung. Ich möchte mit meinen Lerntechniken einladen auf eine Endeckungsreise durch unser Gehirn, zu einer ganzheitlichen Sinneserfahrung und natürlich zu Erfahrungen mit Musik, insbesondere mit der am Klavier gespielten!