Die Motorische Falle

Um zu verstehen, was ich mit der motorischen Falle meine, hier eine kleine Begebenheit: Eine potentielle Klavierschülerin spielte mir vor um bei mir Unterricht zu bekommen. Ich hörte heraus, dass ihr Spiel sehr automatisiert ablief und sagte ihr: „Wetten, dass Du Dich beim nächsten Mal bei dieser Stelle verspielen wirst?“ Sie griff ungläubig in die Tasten um mir zu beweisen, dass sie besagte Stelle wieder fehlerfrei bewältigen konnte. Aber sie scheiterte genau an dem vorhergesagten Takt. „Du hast mich verhext.“, sagte sie und versuchte es erneut, erfolglos. Sie wollte es nicht glauben, aber sie hing immer an der gleichen Stelle. Sie hing in der motorischen Falle fest.

Bewegungsabläufe, die sich zu stark automatisiert haben und als feste abgespeicherte Bewegungsprogramme abgerufen werden, laufen Gefahr, sich bis hin zum absoluten Kontroll- und Gedächtnisverlust dem Bewusstsein zu entziehen. Dann sind sie extrem störanfällig und starr. Man erlebt, dass es eben noch ging und jetzt weiß man nicht einmal mehr, wie es anfängt, dabei hat man es doch tausendmal gespielt.

Vielfach geht man in der Bewegungsforschung davon aus, dass Musizierbewegungen zunächst erlernt und nach und nach automatisiert werden müssen. Man unterstellt, dass natürlich auch dann zu jedem Zeitpunkt Kontrolle und Korrektur dieser Bewegungsprogramme möglich sind und dass es sich somit immer um Sensomotorik handelt. Hierbei geht man jedoch vom Profimusiker aus und verkennt, dass ein Profimusiker permanent mit Übungen beschäftigt ist, die eine zu starke Automatisierung verhindern ohne dass er sich dessen bewusst ist.

Gewinnt die Automatisierung der Bewegungsprogramme überhand, was man immer wieder bei Laien beobachten kann, entwickeln sich die unglaublichsten Auswüchse. So habe ich beispielsweise eine Klavierspielerin kennengelernt, die nicht in der Lage war, ein einmal gestartetes Bewegungsprogramm willentlich anzuhalten, geschweige denn es korrigieren oder gar musikalisch zu gestalten. Sie wissen nicht, was sie tun – im wahren Sinne des Wortes. Sie wissen nicht, welchen Finger sie wo wie einsetzen und erkennen nicht, ob und wo sie welche Bewegung wie ausführen oder nicht. Sie sind nicht in der Lage, ihre Aufmerksamkeit auf bestimmte Aspekte einer Bewegung zu lenken. Der Notentext ist ihnen völlig abhanden gekommen. Auch eine Zurhilfenahme der Noten hindert sie nicht daran, die selben Fehler wieder zu spielen, auch wenn sie sie im Notentext erkannt haben.

Man muss verstehen, dass die Automatisierung der Bewegungen (von mir immer schlicht „Motorik“ genannt) eine Schutzmechanismus ist. Man kann es sich so vorstellen, dass jede Bewegung vom Gehirn gescannt wird. Wird sie nun als immerwiederkehrende Bewegung identifiziert, wird sie abgespeichert und fortan aus einem Steuerungssystem heraus ausgelöst, zu dem unser Bewusstsein keinen Zugang mehr hat.

Auf diesem Hintergrund kann man verstehen, dass beispielsweise eine Klavierspielerin, die alles ausgezeichnet spielt, aber keine parallel laufenden Tonleitern im Tempo ausführen kann. Alle Übungen scheitern immer und immer wieder an dem Punkt, wenn die Tonleitern ins Tempo kommen, denn jetzt werden sie wieder von einem zuvor abgespeicherten gestörten Programm gesteuert, zu dem sie keinen Zugang mehr hat. Oder ich denke an alle, die nicht in der Lage sind, an einem zuvor bestimmten Punkt in einer Passage anzuhalten oder eine Anschlagsart umzusetzen, die das Programm stört, oder die nicht in der Lage sind, Bewegungen in übersichtliche Bewegungsbausteine (beispielsweise 16-tel-Passagen in 4er-Gruppen zu zerlegen.

Es ist am Klavier (und ich unterstelle einmal, an anderen Instrumenten auch) immer wieder die Formel zu beobachten: Mehr Automatisierung der Bewegung = weniger Einfluss und Gestaltungsspielraum für den Ausführenden.

Eine Dominanz der Automatisierung im Spiel hat immer zur Folge: Verspannung, Angst vor Einfluss- und Kontrollverlust, festgefahrene Technik, geringes Ergebnis trotz hoher Zielerwartung und Fleiß, Frust und schließlich Resignation. ICH BIN UNBEGABT!

Doch es gibt Auswege! Und nicht zuletzt die zeigen dass eine radikale Verbesserung der Klaviertechnik auch in fortgeschrittenem Alter noch möglich ist.

3. Oktober 2018