12 Überegeln von Ferruccio Busoni

aus einem Brief an seine Frau vom 20.Juni 1898 zitiert

Überegeln für Klavierspieler (von Ferruccio Busoni)

1. Übe die Passage mit dem schwierigsten Fingersatz; hast du ihn beherrschen gelernt, dann spiele mit dem leichtesten.

2. Bereitet dir die technische Art einer Passage besondere Schwierigkeit, so nimm alle ähnlichen Figuren, deren du dich entsinnst, aus anderen Stücken durch – so wirst du in die betreffende Spielart System bringen.

3. Verbinde stets das technische Üben mit dem Studium des Vortrages; die Schwierigkeit liegt oft nicht in den Noten, sondern in der vorgeschriebenen dynamischen Schattierung.

4. Vergeude nie die Kraft, indem du dich vom Temperament hinreißen läßt; es kommen Schmutzflecken in die Stelle hinein, die man nie wieder auswäscht.

5. Versteife dich nicht darauf, Stücke, die du früher schlecht eingeübt und die deswegen nicht gelingen, überwinden zu wollen; es ist meist vergebliche Arbeit. Hast du aber deine Spielweise inzwischen ganz geändert, so beginne das Studium des alten Stückes von vorne, als ob du es nicht kenntest.

6. Studiere alles und jenes, als ob es das Schwereste wäre; versuche die Jugendetüden vom Standpunkt des Virtuosen aufzufassen. Du wirst staunen, wie schwer ein Czerny, ein Cramer oder gar ein Clementi zu spielen ist.

7. Bach ist der Grund des Klavierspiels. Liszt die Spitze. Die beiden werde dir einen Beethoven ermöglichen.

8. Nimm von vornherein an, daß auf dem Klavier alles möglich ist, selbst wo es dir unmöglich scheint oder wirklich ist.

9. Pflege deinen technischen Apparat, so daß du für jeden beliebigen Fall bereit und gewappnet bist; so kannst du beim Üben eines neuen Stückes deine ganze Kraft auf seinen geistigen Gehalt richten; die technischen Probleme werden dich dort nicht aufhalten.

10. Spiele nie unsorgfältig, selbst wenn dir niemand zuhört oder die Gelegenheit dir zu klein erscheint.

11. Gehe nie über eine mißlungene Stelle hinweg, ohne sie zu wiederholen; kannst du es in Gegenwart anderer nicht tun, so tue es nachträglich.

12. Lasse womöglich keinen Tag vergehen, ohne dein Klavier angerührt zu haben.

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Zitiert aus einem Brief Ferruccio Busoni an seine Frau vom 20. Juni 1898