Interview zu Improvisation u. Liedbegleitung im Klavierunterricht
Improvisation im Klavierunterricht
ein Interview der Musikstudentin Regina Enderle, Musikhochschule München, durchgeführt im Rahmen ihrer Zulassungs-/Diplomarbeit mit dem Klavierlehrer und Pianisten Dietmar Seibert, 10 Januar 2010
Enderle: Welchen Stellenwert hat Improvisation in Ihrem Klavierunterricht?
Seibert: Improvisation steht bei mir am Anfang des Unterrichts. Wir alle haben sprechen gelernt, bevor wir lesen und schreiben lernten. Daher beginne ich den Anfängerunterricht, wenn man so will, mit Improvisation. Ich lehre zunächst die Zusammenhänge der Tasten und Töne zu entdecken, um sie dann in ihrem optischen Erscheinungsbild in den Noten wiederzuerkennen. Im Verlauf des Fortgeschrittenenunterrichts verliert sich in der Regel die Bedeutung der Improvisation im Unterricht. Die Schüler improvisieren dann, wenn sie wollen, ihren eigenen Stil bzw. setzen die durch Improvisation gewonnen Erkenntnisse beim durchdringen von Literatur ein.
Enderle: Welchen Anteil nimmt die Improvisation im Verhältnis zum reinen „Literaturspiel“ (Spielen nach Noten) ein?
Seibert: Das hängt von der Zielsetzung des Unterrichts mit dem jeweiligen Schüler ab. Manche Schüler nehmen bei mir Unterricht mit dem ausdrücklichen Ziel, Improvisation und Liedbegleitung zu lernen, andere mit der Zielsetzung, Literatur zu spielen. Improvisation fehlt bei mir im Unterricht jedoch nie ganz und belegt immer einen Anteil zwischen 20 und 80 %.
Enderle: Ab welchem Alter halten Sie Improvisation am Klavier für sinnvoll?
Seibert: Ab dem Vorschulalter! Ich teste gerade ein Verfahren, nach dem ich mit Kindern im Vorschulalter beginne, die noch keine Buchstaben kennen und noch nicht auf traditionelle Weise mit Noten konfrontiert worden sind. Ich lasse sie Beziehungen der Tasten zueinander herausfinden und lehre sie, mit diesen zu experimentieren. Gleichzeitig lernen sie, diese Beziehungen in Notenbildern auszudrücken und wiederzuerkennen.
Enderle: Kann Improvisation erlernt werden oder ist sie haupsächlich abhängig von der Begabung des Schülers/der Schülerin?
Seibert: Ja, Improvisation kann erlernt werden. Manche Schüler improvisieren ohnehin ganz ordentlich und brauchen nur noch hier und da ein paar Impulse. Wer aber einen Lehrer sucht, um Improvisation zu erlernen, spürt, dass es ihm an eigener Phantasie. Ich habe einen Methode entwickelt, die diese Manko auffüllt. Ich rege den Erfindungsgeist beim Improvisieren an, in dem ich einen Katalog mit festen „Bausteinen“ erstelle, die nach einer Fülle fester Regeln unterschiedlich miteinander verbunden werden können. So entdeckt der Schüler Effekte und entwirft Strukturen, auf die ihn seine eigene Phantasie nie gestoßen hätte. Auf diese Weise kann auch ein Ideenarmer Schüler Improvisation bis zu einem ganz passablen Niveau erlernen.
Enderle: Was sind Vor- und Nachteile von Improvisation im Einzel- bzw. Gruppenunterricht?
Seibert: Vorteile von Improvisation im Klavierunterricht sind die, dass es den Schülern Spaß macht, dass sie lernen, harmonische und rhythmische Strukturen in der Musik zu durchschauen, dass sie freier spielen, auch wenn sie Literatur spielen, weil sie besser auswendig spielen und Notentexte besser verstehen. Nachteile sind die, dass sie sich manchmal im Improvisieren verlieren und nichts anderes mehr üben wollen oder eine Lesefaulheit entwickeln, der man konsequent entgegenwirken muss. Sie probieren einfach aus, wie es klingt. Über Unterschiede im Einzel- und Gruppenunterricht kann ich nichts sagen, da ich nur im Einzelunterricht unterrichte.
Enderle: Welche Formen der Improvisation kommen in Ihrem Klavierunterricht zu Einsatz?
Seibert: Meist Improvisation mit festen Vorgaben, z.B. bekannte Titel, die nach bestimmten Lektionen harmonisiert und gestaltet werden müssen oder Lückennotentexte, in denen transponierte Passagen selbst herausgefunden, bzw. Figuren und Muster fortgesetzt werden müssen. Aber auch Liedbegleitung mit freien Begleitungen, freie Improvisation oder Blues und leichten Jazz.
Enderle: Welche halten Sie für besonders und welche für weniger geeignet und warum?
Seibert: Für besonders geeignet halte ich die Improvisation mit festen Vorgaben, weil bei zu freiem Spiel die Schüler dazu neigen, immer nur die bequemsten Lösungen zu spielen. Und das Transponieren in andere Tonarten, weil diese Form den Horizont des Schülers für harmonische Strukturen erweitert. Für bedingt geeignet halte ich Improvisationlehren, in denen die Schüler lediglich nachahmen.
Enderle: Welchen Nutzen soll Improvisation für den Schüler haben?
Seibert: Improvisation soll dem Schüler helfen, die Logik der schwarzen und weißen Tasten zu verstehen wie seine Muttersprache. Sie soll ihn mit dem Instrument und der Musik eins werden lassen. Sie soll ihm verhelfen, Literatur leicht auswendig zu behalten und sicher zu spielen. Ein Schüler, der auch improvisieren kann, spielt auch Literatur im Vortrag sicherer, als einer, der es nicht kann. Wer improvisieren kann, nimmt Musik anders wahr und dessen Gehirn verarbeitet Musik anders als der, der nicht improvisieren kann.
Enderle: Welche positiven und negativen Erfahrungen haben Sie mit Improvisation insbesondere mit Kindern gemacht?
Seibert: Improvisieren mit Kindern nach einem guten Konzept führt zu höherer Motivation, einem tieferen Verständnis von musikalischen Zusammenhängen und zu wesentlich schnelleren Fortschritten. Kinder wollen mit dem Instrument „spielen“. Sie wollen entdecken, sie wollen etwas herausfinden. Hierfür ist die Improvisation das beste Mittel. Am Lehrer ist es nun, die Entdeckungsfreude eines Kindes in die richtigen Bahnen zu lenken. Nachteile hat nach meiner Erfahrung Improvisation nur dann, wenn man sie nicht ausgewogen mit anderen Disziplinen gemeinsam ausbildet.
Liedbegleitung als spezielle Form der Improvisation
Enderle: Eine Form der Improvisation ist die Liedbegleitung. Zu einer bekannten Melodie soll eine oder mehrere verschiedene Begleitstimmen erfunden werden. Für wie wichtig halten Sie diese Form der Improvisation und kommen sie in Ihrem Unterricht zu Einsatz?
Seibert: Diese Form kommt in meinem Unterricht nur sekundär zu Einsatz. Die Fähigkeit polyphoner Wahrnehmung und Gestaltung arbeite ich mit speziellen kontrapunktischen Übungen, meist dann, wenn ich Schüler an Bach heranführe. Sie sind aber nicht Gegenstand meines Unterrichts in Liedbegleitung am Klavier. Grundlage meiner Lehre in Liedbegleitung am Klavier ist vordergründig eine Funktionsharmonielehre, die man in der Tastatur „begreifen“ im doppelten Sinne, nämlich auch fühlen kann. Es entstehen hierbei i.d.R Vier- oder Mehr-klänge.
Enderle: Welches Ziel könnte dies Improvisationsart für den Schüler/die Schülerin haben?
Seibert: Liedbegleiten, indem Schüler eine oder mehrere Begleitstimmen zu einer Melodie hinzufügen, fördert das Verständnis von Kontrapunktik und das Improvisieren eines Vierstimmigen Satzes. Vorzüglich geeignet für das Orgelspiel und zur Vertiefung von Musiktheorie, nicht aber praxistauglich für Liedbegleitung am Klavier. Am Klavier klingt es besser, wenn die Töne laufen, Akkorde aufgelöst, gebrochen oder rhythmisiert werden. In der Liedbegleitung ist das Klavier stärker ein harmonisches Begleitinstrument, als ein melodisches.
Enderle: Kennen Sie eine Klavierschule oder einen speziellen Lehrgang, in dem auf diese Improvisationsform ein besonderer Schwerpunkt gelegt wird.
Seibert: Nein, jedenfalls nicht für Klavier. Für das freie Spiel an der Orgel allerdings schon.
Eigene Erfahrungen mit Improvisation
Enderle: Improvisieren Sie auch selbst, und wenn ja, in welcher Form?
Seibert: Zur Zeit improvisiere ich nur für meinen Klavierunterricht, ansonsten spiele ich Literatur. Bis vor einigen Jahren habe ich noch Orgelvertretungen in Gottesdiensten gespielt. Hierzu habe ich ausschließlich improvisiert, weil ich keine Zeit hatte, Literatur zu üben.
Enderle: Wie sind Sie zur Improvisation gekommen und seit wann improvisieren Sie mit Schülern?
Seibert: Ich habe als Kind ausschließlich improvisiert, weil mir die Stücke im Klavierunterricht zu einfach und zu langweilig waren. Später bedauerte ich, dass ich damals nicht sorgfältiger für den Klavierunterricht geübt habe. Ich bedauerte aber auch, dass meine damalige Klavierlehrerin diese Situation nicht erkannt und meine Improvisationen nicht stärker in den Klavierunterricht integriert hat. In meiner eigenen Tätigkeit als Klavierlehrer wurde mir schnell klar, dass ich kein Einzelfall war. Vielen meiner Schüler ging es mit den traditionellen Klavierschulen genauso und so habe ich nach und nach Improvisation in meinen Unterricht einbezogen. Überhaupt schreibe ich im Anfangsunterricht die Stücke für die Schüler i.d.R. selbst und stimme die Schwierigkeiten jeweils auf den Stand des Schülers ab. Bei mir selbst beobachtete ich lange Zeit eine deutliche Diskrepanz zwischen „fremder“ Literatur und „Eigenem“. Ich spielte, besonders beim öffentlichen Vortrag, eigene Improvisationen wesentlich sicherer als demgegenüber leichtere fremde Literatur. Aus dieser Erkenntnis strebte ich an, jede Literatur so zu unterrichten, als hätte der Schüler sie selbst erfunden. Ich lasse also beim Erlernen die Schüler die Stücke sozusagen mit Hilfe des Notentextes selbst erfinden.
Seibert: Improvisation steht bei mir am Anfang des Unterrichts. Wir alle haben sprechen gelernt, bevor wir lesen und schreiben lernten. Daher beginne ich den Anfängerunterricht, wenn man so will, mit Improvisation. Ich lehre zunächst die Zusammenhänge der Tasten und Töne zu entdecken, um sie dann in ihrem optischen Erscheinungsbild in den Noten wiederzuerkennen. Im Verlauf des Fortgeschrittenenunterrichts verliert sich in der Regel die Bedeutung der Improvisation im Unterricht. Die Schüler improvisieren dann, wenn sie wollen, ihren eigenen Stil bzw. setzen die durch Improvisation gewonnen Erkenntnisse beim durchdringen von Literatur ein.
Enderle: Ab welchem Alter halten Sie Improvisation am Klavier für sinnvoll?
Seibert: Ab dem Vorschulalter! Ich teste gerade ein Verfahren, nach dem ich mit Kindern im Vorschulalter beginne, die noch keine Buchstaben kennen und noch nicht auf traditionelle Weise mit Noten konfrontiert worden sind. Ich lasse sie Beziehungen der Tasten zueinander herausfinden und lehre sie, mit diesen zu experimentieren. Gleichzeitig lernen sie, diese Beziehungen in Notenbildern auszudrücken und wiederzuerkennen.