Bewegungswahrnehmung

Man müsste Klavier spielen könnenEs geht um die Bewegungswahrnehmung! Allzuoft wird in der neurowissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Klavierspiel die Bedeutung der automatisierten Bewegungen hervorgehoben. Hier dominiert die Auffassung, das man das Bewegungslernen in Phasen begreifen muss, bei denen in der letzten Phase die Motorik (hier als automatisierte Bewegungen gemeint) ohne bewusste Kontrolle die Regie über das Gesehen übernimmt. Schaut man auf die traditionellen Prinzipien der Klavierpädagogik, scheint dies auch auf den ersten Blick einer gewissen Logik zu entspringen. Bei genauerem Hinschauen jedoch, kristallisiert sich heraus, dass es ganz andere Disziplinen sind, die der Arbeit am Klavier zu höherem Niveau verhelfen.

Was zunächst augenscheinlich als Erfolg der reinen stupiden Wiederholung von Passagen zugeschrieben wird, stellt sich schließlich nur dann ein, wenn eine ständige Veränderung der Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf andere Details erzwungen wird. Der Trägheit der Aufmerksamkeit nachzugeben, wozu die automatisierte Motorik immer verleitet, bedeutet schließlich kompletter Kontrollverlust. Man landet in der Motorischen Sackgasse. Die unbedingte Forderung nach ständig veränderter Aufmerksamkeit muss hier nicht weiter belegt werden. Sie zeigt sich durch die gesamte ernstzunehmende Literatur der Klavierpädagogik. Spannender ist die Frage, welche neuronalen Veränderungen sie bewirkt und bewirken sollte und in welcher Weise sie zu welchem Erfolg und zu welchen höheren Fähigkeiten führt.

Das allen erfolgreichen Klavierpädagogischen Prinzipien übergeordnete Ziel scheint die Bewegungswahrnehmung zu sein, auch wenn es nicht immer so ausgedrückt wird. Zielführend zum richtigen Verständnis von höherer Bewegungswahrnehmung, wie sie beim Klavierspiel gefordert ist, ist sicherlich die Beschäftigung mit dem HOMUNCULUS, ein unansehnliches Männchen, mit einem übergroßen Mund in dem die herausquellende Zunge dominiert und an dessen dünnen Ärmchen übergroße Hände mit dicken Fingern eher an einen Krebs als an einen Menschen erinnern. Hier sind die Körperteile des Menschen in einer Größe zueinander dargestellt in der sie unterschiedlich große Areale im Gehirn besetzen. Anders ausgedrückt: in der sie eine Präsenz im Gehirn aufweisen. Diese Präsenz ist veränderbar bis ins hohe Alter, je nachdem wie jemand seine Körperteile einsetzt und gebraucht. Bei Pianisten beispielsweise sind die Finger im Gehirn wesentlich stärker repräsentiert als beim Durchschnitt.

Um sich eine Vorstellung von der „Fingerpräsenz“ (wie ich es nenne) zu machen, denke man einmal an den 4. Finger der rechten Hand. Man fühlt ihn gesondert zwischen den anderen Fingern heraus. Zwar fühlt man den 2. Finger und den Daumen besser, aber auch der 4. Finger ist isoliert fühlbar. Stelle man sich aber einmal die gleiche Übung mit dem 4. Zeh des rechten Fußes vor, dann wird deutlich, was unterschiedliche Präsenz von Körperteilen bedeutet und wie es sich anfühlt, wenn man diese verbessert.

Eine verbesserte Fingerpräsenz (darunter ist natürlich auch Handgelenkpräsenz, Armpräsenz zu verstehen) erschließt mit leichten Übungen und mit dem Fokus der Aufmerksamkeit auf Spannungs- und vor allem Entspannungszustände der Finger auch während der Zeit zwischen den Anschlägen eine erweiterte Bewegungswahrnehmung und verbesserte Fähigkeit der Bewegungssteuerung, die vergleichbar ist mit dem Unterschied, den man in der Unabhängigkeit der Finger im Vergleich zu den Zehen verspürt. Und geschicktes Arbeiten an ihr führt schneller ans Ziel, als man durch reines aktives Spiel erreicht.

Siehe hierzu meine „Fingerpräsenzübung“ unter „Ratsame Übungen“

Stupide Wiederholungen führen unweigerlich zu dem, was ich als „Motorische Falle“ bezeichne und die Vorstellung von einmal erarbeiteten ökonomischen Bewegungen, die fortan immer genau so ausgeführt werden, zu starren Bewegungsabläufen, die wenig Unabhängigkeit und wenig Zugang zu klanglicher und musikalischer Gestaltung zulassen und wenn man sie noch so sehr in seiner Vorstellung fokussiert.

Dietmar Seibert, August 2018