Vom-Blatt-Spiel und die Auswirkungen auf das Gedächtnis
Zunächst viel mir auf, dass Spieler, die Jahrzehnte lang ausschließlich vom Blatt zu spielen gewohnt waren, nicht auswendig spielen wollten. Erst als sich welche das Auswendig-Spiel zum Ziel gesetzt hatten, weil anders eine Arbeit an ihrer Technik nicht machbar erschien, erkannte ich, dass sie es auch nicht konnten. Mit auswendig unterrichten hatte ich meine Erfahrungen und konnte bei Schülern erreichen, dass sie sich relativ komplexe Passagen mit einmaligem Erfassen behalten konnten. Im Vergleich hierzu viel mir auf, dass sich notorische Vom-Blatt-Spieler einfachste Strukturen nicht behalten konnten, in manchen Fällen nicht einmal 4 zusammenhängende Töne. So sehr sie es auch wollten, Bewegungsmuster blieben immer instabil, wie unkontrollierte motorische Reflexe und mussten wieder nachgeschaut werden.
Eine Erklärung lässt sich aus diesen Beobachtungen ableiten: das Gehirn ist ein ganzes Leben lang regelrecht konditioniert, durch lesen erfassten Notentext augenblicklich wieder auszublenden, da neuer Input erwartet wird und diese Vorgang lässt sich nur schwer umkehren. Notentext wird hier unverstanden erfasst und fließt für den Ausführenden als nicht beschreibbarer und kontrollierbarer Reflex durch die Finger in die Tasten und ist wieder weg. Ein Bemühen, so gelesenen Notentext zu behalten ist zwecklos, es wird nicht funktionieren.
Ein Ausweg ist hier die Improvisation mit Bausteinen (Harmonien und Bewegungsmuster), die verstanden und von innen heraus eingesetzt aber NICHT GELESEN werden dürfen. Es ist kein Gedächtnisproblem, sondern eine Folge einer Art „Vergessenstraining“. Es ist kein Versagen sondern ein Erfolg eines Trainings, den man aber jetzt nicht haben will. Diese Notentextamnesie ist auch nur auf die Ausführung von Musik auf dem Instrument begrenzt! Viele erschrecken bei der Entdeckung dieses Unvermögens und erkennen nicht, dass es antrainiert ist.
März 2019