interessante Phänomene der Bewegungssteuerung

Motorik

. . . Eines der auffälligsten Phänomene der Bewegungssteuerung ist sicher das der automatisierten Bewegungen, von mir oft vereinfacht nur als „Motorik“ bezeichnet. Jede Bewegung scheint vom Gehirn gescannt zu werden um dann, je nach Anzahl der Wiederholungen teilweise oder komplett automatisiert ausgeführt zu werden. Jeder Klavierspieler kennt es, doch fatalerweise wird es in der Klavierpädagogik immer wieder überbewertet und als eigentlicher Lernprozess des Bewegungslernens angesehen. Wirklich interessant wird es dort, wo man die Auswüchse dieser Hirnfunktion beobachten kann, wenn sie also überstrapaziert ist. So ist es oft, je nach Grad der Automatisierung, Spielern nicht mehr möglich aus einem Bewegungsmuster herauszufiltern, welchen Finger sie da oder dort benutzen, geschweige denn zu erkenne oder gar zu beeinflussen, ob diese Bewegung ökonomisch und rund ist. Haben sich irgendwo unökonomische oder fehlerhafte Bewegungen festgesetzt, üben Hypermotorikern gegen eine Wand. Egal wie fleißig sie sind, sie können keine Verbesserung erziehen. Ich erlebe immer wieder Schüler, die nicht in der Lage sind, ein einmal gestartetes Bewegungsprogramm willentlich anzuhalten. Ich würde inzwischen sagen, wer als Klavierpädagoge noch nicht darauf gestoßen ist, hat nur noch nicht danach gesucht.
Wer von Anfang an mit äußerster Strenge und Disziplin zu einer ökonimischen und guten Klaviertechnik angenahlten worden ist, dem fällte dieses Phänomen weniger brutal in den Rücken. Allen anderen steckt es lebenslang die Grenzen ihrer Möglichkeiten und das sehr früh. Sicher ist hieraus eben auch die Vorstellung erwachsen, man könnte in fortgeschrittenem Altern in der Klaviertechnik keine nennenswerten Fortschritte mehr erzielen könnte.

Bewegungsplanung

…Ein weiteres sehr interessantes Phänomen ist das der Bewegungsplanung. Jeder kennt es: man greift nach einem Gegenstand, den man für Styropor hält, der aber aus Stein ist und er fällt einem fast aus der Hand. Spätestens hier spürt man, dass die beabsichtigte Bewegung genauestens geplant war. Noch interessanter ist aber die Beobachtung, dass uns nahezu alle Gegenstände aus unserem bisherigen Leben, die wir einmal in der Hand gehabt haben, nicht mehr überraschen. D.h.: sie sind alle bezüglich ihrer Oberflächenbeschaffenheit, ihres Gewichts usw. genauestens abgespeichert und überraschen uns daher nicht mehr. Diese Speicherfähigkeit unseres Gehirns ist ein enormes Potential, das man im Klavierspiel einzusetzen wissen sollte. Noch interessanter wird es, wenn wir entdecken, welche Faktoren unsere Erwartungshaltung gegenüber einem Gegenstand noch so alles mitberücksichtigt. Beispielsweise serviert mir jemand eine Tasse Tee. Nach einer Weile greife ich danach und stelle fest, dass mich auch die inzwischen gesunkene Temperatur nicht überrascht. Wenn wir nach Gegenständen greifen, haben wir auch eine unbewusste Temperaturerwartung, die aber häufig nicht bestätigt wird, bei der wir aber auch erkennen können, dass sie sich wie über eine Art innere Uhr verändert und nach unseren Erfahrungswerten anpasst, wie im Beispiel geschildert.

Greifbewegungen werden ohnehin vor ihrer Ausführung im Gehirn vorbereitet und dann erst ausgeführt. So zeige ich immer mit dem „Kugelschreibertest“ (meine Schüler kennen ihn) auf, dass wir mit geschlossenen Augen exakt nach einem Gegenstand greifen können, den wir zuvor an dieser Stelle gesehen haben, mehr noch: dass wir ihn sogar mit der Fingerspitze berühren können ohne ihn zu diesem Zeitpunkt zu sehen. Das Programm der Bewegungsausführung ist zuvor exakt vorbereitet worden, als wir ihn angeschaut und lokalisiert haben. Eine unterstellte Absicht, später nach ihm greifen zu wollen ist hierbei unerheblich. Es geschieht von selbst.

Reflexbewegungen

Demgegenüber können wir aber auch das Phänomen der Reflexbewegungen beobachten, wenn wir beispielsweise nach einer umstürzenden Vase greifen. Wir führen hier eine exakte, vorher nicht geplante und auch nicht gelernte Bewegung perfekt aus. Dieses Phänomen setze ich in der Improvisationstechnik ein. Bewegungen werden in bausteinhaft erworbenen Bewegungsmuster wie eine spontane Störung injiziert und sie funktionieren (oft mit spektakulär schlechten Fingersätzen) nahezu perfekt, ohne je vorher gelernt oder bewusst geplant oder beabsichtigt worden zu sein. Interessanterweise scheinen Kleinkinder bis zu einem bestimmten Alter (das habe ich noch nicht untersucht) diese Fähigkeit noch nicht zu besitzen.